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Die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Kriegsverbrechen im Nahostkonflikt

Julia Spiesberger zum Nahostkonflikt und der Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs



Als sich im Mai 2021 der Konflikt zwischen Palästina und Israel verschärfte, erinnerte vieles an vorherige Gewaltausschreitungen im Nahostkonflikt: Die israelische Regierung veranlasste Zwangsräumungen und Razzien der al-Aqsa-Moschee, die Hamas feuerte Raketen auf Israel und Israel bombardierte dicht besiedelte Gebiete im Gazastreifen. Wie schon zuvor: Eine Spirale heftiger Gewalt und sich verhärtender Fronten, von der es kein Entrinnen zu geben scheint. Eines jedoch ist diesmal anders: Diesmal „beobachtet“ die Anklagebehörde des Internationale Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag die Situation „sehr genau“ und erinnert daran, dass „ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde und die Entwicklung dieser Ereignisse auch etwas sein könnte, was wir uns ansehen“. Können und werden mögliche Kriegsverbrechen im Nahostkonflikt nun also vor dem IStGH verhandelt?

 

Gemäß Artikel 12 des IStGH Statuts (IStGHSt) kann der IStGH nur dann tätig werden, wenn (1) die Tat auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde, (2) von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats begangen wurde, oder (3) der Tatort- oder Täterstaat kein Vertragsstaat ist, sich aber ad hoc der Zuständigkeit des IStGHs unterwirft. Israel ist bislang weder Mitgliedstaat noch hat es sich der Zuständigkeit des IStGHs unterworfen. Palästina hingegen ist Anfang 2015 dem IStGHSt beigetreten. Fast zeitgleich hat sich Palästina auch der Zuständigkeit des IStGHs für Verbrechen, die seit dem 13. Juni 2014 „in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem“ begangen wurden, unterworfen. Ob dies jedoch genügt, um die Gerichtsbarkeit über Verbrechen im Nahostkonflikt zu begründen, ist insbesondere wegen der Frage nach Palästinas völkerrechtlichen Status als Staat umstritten.

 

Die Anklagebehörde beantragte im Januar 2020 eine Entscheidung zur Klärung der Gerichtsbarkeit bei der Vorverfahrenskammer und argumentierte, dass Palästinas völkergewohnheitsrechtliche Einordnung als Staat, keine notwendige Voraussetzung für die Gerichtsbarkeit des IStGHs darstelle. Vielmehr richte sich die Staatlichkeit im Sinne des Artikels 12 IStGHSt nach dem Status als Vertragsstaat („State Party“; siehe Art. 125 IStGHSt): Palästinas Staatlichkeit im Sinne des Artikel 12 IStGHSt sei demnach erfüllt, da der Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) – nachdem die Vollversammlung der VN Palästina den Status eines Beobachterstaats eingeräumt hatte – Palästinas Beitrittserklärung zum IStGHSt entgegengenommen hat und Palästina in die Arbeit der Versammlung der Vertragsstaaten des IStGHs eingebunden und Vertragsstaat wurde.

 

Palästina sowie mehrere amici curiae (in diesem Fall Staaten, NGOs und Einzelpersonen) gaben Stellungnahmen zum Antrag der Anklagebehörde ab, wovon sich knapp über die Hälfte, darunter auch Deutschland, gegen die Gerichtsbarkeit aussprachen. Deutschland vertrat dabei die Ansicht, dass Palästina die völkerrechtlichen Kriterien der Staatlichkeit (noch) nicht erfülle, weshalb es dem IStGHSt erst gar nicht hätte beitreten dürfen. In einer Entscheidung vom Februar 2021 folgte die Mehrheit der Vorverfahrenskammer im Kern dem Standpunkt der Anklagebehörde und bejahte die Gerichtsbarkeit des IStGHs über die Situation in Palästina, ohne die Frage nach Palästinas Staatlichkeit nach völkergewohnheitsrechtlichen Maßstäben zu prüfen. Kurz darauf eröffnete die Anklagebehörde dann ein Ermittlungsverfahren.

 

Während die Gerichtsbarkeit des IStGHs über die Situation in Palästina damit vorerst geklärt zu sein scheint, ist es fraglich, ob mögliche Kriegsverbrechen im Nahostkonflikt künftig tatsächlich vor dem IStGH verhandelt werden. Zum einen hat die Vorverfahrenskammer ihre Entscheidung zur Gerichtsbarkeit ausdrücklich auf den „aktuellen Verfahrensstand“ beschränkt – also auf die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens. Zum anderen ist die Frage nach Palästinas Staatlichkeit als Vorrausetzung für die Gerichtsbarkeit des IStGHs nicht nur in der Literatur und internationalen Gemeinschaft, sondern auch innerhalb des IStGHs umstritten: Im Gegensatz zu seinen KollegInnen, erachtet Richter Kovács die Klärung von Palästinas völkergewohnheitsrechtlichen Status als unerlässlich und widersprach in diesem Punkt der Mehrheit in einem abweichenden Votum.

 

Eine Entscheidung der Berufungskammer wäre also wünschenswert, wird aber wohl auf sich warten lassen, bis die Anklagebehörde die ersten Anklagen erhebt. Indessen hat die Anklagebehörde bestätigt, dass ihre Ermittlungen sowohl Verbrechen gegen palästinensische als auch gegen israelische Opfer umfassen.


Julia Spiesberger war Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Bucerius Law School und hat als Völkerstrafrechtlerin am Internationalen Strafrechtstribunal für das ehemalige Jugoslawien sowie für den Internationalen Resi-dualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe in Den Haag gearbeitet.


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