· 

Too little, too late

Die Einführung des E-Examens ist nur ein Feigenblatt vor der nötigen Ausbildungsreform



„Der juristischen Ausbildung kommt dabei die Aufgabe zu, die angehenden Juristinnen und Juristen so gut wie möglich auf ihre spätere Arbeitswelt vorzubereiten. […] Im Gegensatz dazu verfassen Juristinnen und Juristen Klausuren nach wie vor handschriftlich, obwohl die Möglichkeit, Klausuren am Computer zu verfassen, nicht nur mit Blick auf das spätere Arbeitsleben wesentliche Vorteile mit sich brächte.“

 

Ein Zitat, das nicht etwa aus einer dieses Jahr gehaltenen Rede der Hamburger Bürgerschaft stammt, sondern Bestandteil des Antrags „Staatsexamen 2.0 – Die Digitalisierung im Jurastudium vorantreiben“ (Drs. 21/14523) ist. Die politisch interessierte Leserin erkennt es sofort: Gestellt (und dann beschlossen) wurde dieser Antrag bereits in der 21. Wahlperiode, genauer gesagt am 2. Oktober 2018. Seitdem ging es mal mit größeren, mal mit kleineren Schritten voran. Lange stand das Problem „Wir finden keine Bürofläche“ im Mittelpunkt der Diskussionen um das…

 

…E-Examen in Hamburg

 

Während in der Praxis E-Akte, beA und ChatGPT für die Arbeit von Jurist:innen erhebliche Änderungen bedeuteten, änderte sich am Hamburger JPA zunächst … nichts. 2022 keimte dann die Hoffnung doch wieder auf, weil eine geeignete Location gefunden schien. Nun wartet aber der nächste Endgegner deutscher Bürokratie vor der Tür: Natürlich ist eine Ausschreibung durchzuführen. Ursprünglich für April angekündigt, wurde die Ausschreibung für die Software im August 2023 veröffentlicht – immerhin hat man aus den Erfahrungen anderer Länder gelernt und entwickelt sie nicht selbst.

 

Die genauere Lektüre führt jedoch einmal mehr zu Ernüchterung: Copy & Paste soll ebenso deaktiviert werden können wie die Rechtschreibprüfung oder Tastenkürzel für Fett- und Kursivsatz. Immerhin: Nach Diskussionen mit dem Personalrat der Referendar:innen wurde davon abgesehen, auch die Funktion der Backspace-Taste zu deaktivieren. Man darf gespannt sein, ob diese für die Software geforderten Funktionen am Ende auch eingesetzt werden.

 

Aber selbst, wenn…

 

…man den Blick in die Zukunft des Examens schweifen lässt, bleiben viele Fragen offen. Diese betreffen zunächst die geplante Umsetzung des E-Examens, aber auch die Konsequenzen für Hochschulen und Studierende.

 

Denn selbstverständlich wird der Arbeitsplatz nicht etwa in gleicher Weise wie im späteren Berufsleben verwendet, sondern als bessere Schreibmaschine. Alle nutzbaren Funktionen gab es bereits, als die meisten der Diplom-Jurist:innen in spe das Licht der Welt noch nicht erblickt haben dürften.

 

Verwegener und natürlich ausgeschlossen war der Gedanke, dass Studierende sich ihr Arbeitsgerät selbst aussuchen dürfen. Was für Ivy League und Oxbridge gut genug ist, erfüllt scheinbar die Anforderungen an die Vereinbarkeit von Täuschungsversuchen hierzulande nicht. Sicherlich eine der weniger bedeutenden Episoden dieses Dramas, die aber doch zeigt, mit welcher Haltung man den Entwicklungen gegenübersteht.

 

Solche Baustellen führen dazu, dass weder die Hochschulen noch die Studierenden wissen, unter welchen Bedingungen und ab wann das Examen denn nun getippt werden kann. Für letztere erhöht sich der ohnehin enorme Druck durch einen weiteren Unsicherheitsfaktor. Für die Hochschulen stellt sich die Frage, wie man mit dieser Unsicherheit am besten umgeht. Unsere Alma Mater hat sich dafür entschieden, auf die Zeitpläne des JPA zu setzen, und wird ab dem Herbsttrimester 2023 die meisten Klausuren per Wiseflow schreiben lassen. (Wiseflow ist die Prüfungssoftware des dänischen Anbieters Uniwise, der insbesondere in Europa weit verbreitet und bestens beleumundet ist.)

 

Jenseits der Verbindungsbahn im Rechthaus der UHH scheint man weniger Vertrauen zu haben und hat sich dem Vernehmen nach entschieden, zunächst einmal gar nicht tätig zu werden. Daraus Schlüsse auf Innovationsgeist und Risikofreude, Studierendenorientierung und Vertrauen in andere Behörden zu ziehen, überlassen wir an dieser Stelle gern Euch.

 

Stattdessen werden wir noch einen kurzen Blick darauf…

 

…was wir eigentlich bräuchten

 

„Und in ein paar Semestern werdet ihr vor lauter Paragraphen die Fragen nach Inhalt, Funktion, Methodik schon gar nicht mehr stellen. Auf diese Weise werdet ihr mit einiger Sicherheit gute und brave Juristen – gut im Sinne alter deutscher Juristentradition, das heißt staatsdienend und staatserhaltend, das Vorgestern mit allen Mitteln und gesetzesinterpretatorischen Winkelzügen gegen das Morgen verteidigen, als Apostel der Statik und Feind jeder Dynamik.“

 

Mit diesen kritikgetränkten Worten wandte sich ein Jurastudent 1969 an die Erstsemester und ergänzte damit die heute über 500 Jahre alte Debatte um die Reformbedürftigkeit der Jurist:innenausbildung um einen weiteren Beitrag. Das Deutsche Richtergesetz (DRiG) definiert diese seit 1961 formell und setzt für die Befähigung zum Richteramt nach § 5 Absatz 1 Satz 1 DRiG den Abschluss eines rechtswissenschaftlichen Studiums an einer Universität mit der Ersten und eines anschließenden Vorbereitungsdiensts mit der Zweiten Staatsprüfung voraus. Materiell regelt § 5a Absatz 3 DRiG, dass die Inhalte des Studiums die ethischen Grundlagen des Rechts berücksichtigen, die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts fördern und für die Praxis erforderliche (Schlüssel-)Qualifikationen vermitteln sollen.



An sich ist damit bereits ganz Grundsätzliches über die juristische Ausbildung gesagt. Recht ist nur erklärbar vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und sozialen Interessen. Wer die Durchgriffshaftung verstehen will, muss sich mit den unterschiedlichen Interessen im Wirtschaftsleben beschäftigen. Wer die heutigen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch verstehen will, muss sich mit den politischen Auseinandersetzungen der 1970er und 80er beschäftigen. Wer später Verträge oder Vergleiche aufsetzt, sollte bereits im Studium nicht nur die Anwendung bestehender Normen erlernen, sondern dazu angehalten werden, aus bestehenden Interessenkonflikten rechtlich neue Lösungen zu erarbeiten.

 

Diese Kreativität bei der Bewältigung neuer und unbekannter Probleme sollte eine zeitgemäße Ausbildung für Jurist:innen ausmachen. Sie setzt voraus, dass wir uns nicht nur mit den heutigen rechtlichen Regelungen auseinandersetzen, sondern auch mit dem Entwicklungsstand der Technik und Gesellschaft, auf den das Recht reagieren muss. Diese Kompetenz, eben auch auf ungelöste (und teilweise noch unbekannte) Entwicklungen reagieren zu können, wäre unsere beste Versicherung und notwendige Investition in die Zukunft unseres Berufsstands.

 

Raum für diese Kompetenzentwicklung lässt sich indes nur durch Streichung anderer Studieninhalte gewinnen, wie die iur.reform-Studie betont. Der steigenden Legal Complexity durch Erweiterung der PrüfungsgegenständeVO zu begegnen, bereitet weder auf den Berufsalltag vor – wie eine Studie unserer Alma Mater zusammen mit der Boston Consulting Group und dem Legal Tech Verband Deutschland zeigt. Es steigert auch nicht die Attraktivität des Jurastudiums – gerade für solche Menschen, die im Rechtssystem gegenüber der Bevölkerung zu Lasten der Akzeptanz des Rechtsstaates schon heute unterrepräsentiert sind, weil Habitus und sozioökonomische Hemmschwellen abschreckend wirken.

 

Die Zeit, sich grundlegend Gedanken zu machen, könnte nicht passender sein. Veränderung ist unausweichlich – zu entscheiden ist nur, ob man von ihr getrieben wird oder sie mitgehalten will.

 

„Und was geht uns das an?“…

 

…könnte man nun fragen, wenn das eigene Examen in der Vergangenheit liegt. Eine Menge, finden wir. Das Studium an der BLS haben wir schließlich nicht nur aufgenommen, weil die Wahrscheinlichkeit eines guten Examens besonders hoch ist, sondern (hoffentlich) auch, weil sie ein Ort ist, an dem seit jener legendären Diskussion im Amtszimmer des Ersten Bürgermeisters Henning Voscherau 1997 der Status Quo der Jurist:innenausbildung hinterfragt wird. Von Kleingruppen über eine 24/7-Bibliothek, das Examensvorbereitungsprogramm, Internationalisierung, das ZJL, Studium Generale und zuletzt Legal Tech Center und Learning Innovation Lab prägt dieser Gedanke unsere Alma Mater seither.

 

So wie wir Ehemalige uns in großer Zahl und thematisch breit im Bucerius 2030-Prozess eingebracht haben, könnten wir in einem zweiten Schritt aber auch darüber nachdenken, wie es um das Examen bestellt ist. Leiten lassen sollten wir uns von der Frage, wie Jurist:innen künftig der Gesellschaft nützen und einen Beitrag zu ihrem Gedeihen leisten können. Verabschieden sollten wir uns deshalb von der Vorstellung, als Jurist:innen allein selbst festzulegen, was die Juristin der Zukunft können muss, sondern den Austausch mit anderen Disziplinen und der Praxis suchen.

 

Unsere Hochschule ist der Versuch, das Recht und die Rechtswissenschaft auf die Bedürfnisse des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts einzustellen. Jetzt wartet das zweite Viertel auf uns und wir freuen uns auf die Diskussionen zu diesem Thema mit Euch.


Jonathan Schramm (Jg. 2014)

Sven Störmann (Jg. 2010)


Kommentar schreiben

Kommentare: 0