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Kollektive Unfriedlichkeit

Jonathan Schramm äußert sich im Fall Lina E. zu Allgemeinverfügungen im Kontext von Versammlungen



Seit mehreren Wochen haben linke Gruppierungen für den Tag der Urteilsverkündung im Strafverfahren gegen Lina E. und drei andere Angeklagte vor dem OLG Dresden und das darauffolgende Wochenende Protestveranstaltungen angekündigt.

 

Am 31. Mai 2023 verurteilte das OLG Dresden die Angeklagte Lina E. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Die anderen Angeklagten wurden zu Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren, zwei Jahren und fünf Monaten sowie drei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Bereits am Tag vor der Urteilsverkündung, am 30. Mai 2023, erließ die Stadt Leipzig eine „Allgemeinverfügung zur Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit im Zusammenhang mit dem sogenannten Antifa-Ost-Prozess/Tag X“. Nach der Allgemeinverfügung ist es jedermann untersagt, im Stadtgebiet Leipzig am Wochenende des 3. und 4. Juni 2023 öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel zu veranstalten oder daran teilzunehmen, welche sich inhaltlich auf den Antifa-Ost-Prozess bzw. dessen Angeklagte beziehen und nicht bis Mittwoch, den 31. Mai 2023, 24 Uhr, bei der zuständigen Versammlungsbehörde angezeigt wurden. Wobei der Versammlungsbehörde vorbehalten ist, im Einzelfall Ausnahmeentscheidungen zu treffen.

 

Zugrunde lag der in der Begründung zitierten Entscheidung des OVG Hamburg ein im Rahmen des G20-Gipfels angestrengtes Verfahren. Im Eilverfahren beanstandete das OVG Hamburg im Juli 2017 diese Allgemeinverfügung letztlich nicht. Dabei schloss sich das OVG Hamburg der Auffassung des VG Hamburg (Rn. 22) an, dass es vorliegend offenbleiben könne, ob von der verfahrensgegenständlichen Versammlung des Antragstellers selbst eine unmittelbare Gefahr für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit ausgehe. Die Allgemeinverfügung betreffe nicht nur den Antragsteller, sondern alle potenziellen Versammlungsteilnehmer. Es komme daher auf eine Gesamtbetrachtung an. Im Rahmen einer solchen sei zu prüfen, ob aus dem Kreis der potenziellen Teilnehmer von Versammlungen im Geltungsbereich der Allgemeinverfügung eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu erwarten ist (Rn. 28).

 

Demgegenüber hielt das VG Hamburg im Hauptverfahren im Februar 2022 zu dem G20-Verfahren in Hamburg an dem Gesamtbetrachtungsansatz aus dem Eilverfahren nicht länger fest. Das VG Hamburg hielt es nicht länger für ausreichend, dass aus dem Kreis aller Teilnehmer von Demonstrationen und sonstigen Aktionen im Geltungsbereich der Allgemeinverfügung eine unmittelbare Gefährdung für die öffentliche Sicherheit zu erwarten ist. Vielmehr setze die Vorschrift des § 15 Abs. 1 VersG eine unmittelbare – konkrete – Gefahr im Zurechnungszusammenhang mit einer konkreten Veranstaltung („die“ Versammlung) voraus (Rn. 87).

 

Neben diesen rechtlichen Kritikpunkten am (zunehmenden) Einsatz von Allgemeinverfügungen im Kontext von Versammlungen (siehe hier und hier) erscheint das Vorgehen auch unter polizeitaktischen und psychologischen Aspekten fragwürdig. So verfehlen Allgemeinverfügungen – unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit – den mit ihnen verfolgten Zweck, den Schutz der Rechtsordnung, wenn sie aus Sicht vieler Bürger:innen selbst gegen diese Rechtsordnung verstoßen und ihnen ihr Recht auf friedliche Ausübung ihrer Meinungs- und Versammlungsfreiheit verwehren. Ein Staat, der aufhört zu differenzieren und damit die Gefahr von Rechtsverstößen in Kauf nimmt, verliert seine so wichtige Autorität und treibt damit auch seine Verbündeten in die Arme der ihn ablehnenden Gruppen.


Jonathan Schramm (Jg. 2014)


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